Gekränkte Freiheit by Amlinger Carolin; Nachtwey Oliver

Gekränkte Freiheit by Amlinger Carolin; Nachtwey Oliver

Autor:Amlinger, Carolin; Nachtwey, Oliver [Amlinger, Carolin; Nachtwey, Oliver]
Die sprache: deu
Format: epub
Tags: AfD
Herausgeber: Suhrkamp Verlag
veröffentlicht: 2022-10-10T00:00:00+00:00


Die Gestalt der Querdenken-Bewegung

Frau Schönle ist 52 Jahre alt und arbeitet freiberuflich als Psychologin, Coach und Familienberaterin. Sie fühlt sich naturnah und ist Flexitarierin. »Querdenken« – das ist für sie eine Grundvoraussetzung ihres Berufes, ja ihres Lebens. Als sie drei Jahre alt war, trennten sich ihre Eltern. Bereits damals stellte sie fest, dass beide Seiten ihre eigene Wahrheit hatten. Diese Einsicht nimmt sie sich bis heute zu Herzen. Zu ihren Grundsätzen gehört, sich nach ihrem Inneren zu richten. Früher hat Frau Schönle dem Staat vertraut, sie betrachtet sich als »extrem demokratischen Menschen«. Schon als Jugendliche hat sie sich für Ungleichheit, Diskriminierung und Antirassismus interessiert. Bisher hat sie meistens die Grünen und manchmal die SPD gewählt. In der Pandemie war sie von den Grünen dann jedoch zutiefst enttäuscht, da diese der von ihr diagnostizierten Aushöhlung der Demokratie nicht entgegentraten. Ihr endgültiges Erweckungserlebnis sei schließlich ein Papier aus dem Innenministerium gewesen. Die darin geschilderten Maßnahmen, vor allem die Maskenpflicht, empfand sie als »Missbrauch«, die Angstmache als »Psychoterror«, besonders für Kinder. Nach der Lektüre beschloss sie, ein System, das Angst instrumentalisiere, nicht länger zu unterstützen. Einige Menschen aus ihrem Bekanntenkreis, berichtet Frau Schönle, seien wenige Wochen nach der zweiten Impfung gestorben. Sie wisse zwar die Todesursache nicht, kenne aber niemanden, der an Corona gestorben sei. Sie glaubt, die Pandemie werde genutzt, um eine politische Agenda durchzusetzen. Wissenschaftler:innen, die anderer Meinung seien, würden diffamiert. Dabei sei es doch wichtig, verschiedene Positionen zu hören – und außerdem müsse man auch ein »bisschen auf seine Intuition vertrauen«.

Frau Schönle ist eine der Querdenker:innen, mit denen wir ausführliche Interviews geführt haben. Seit Herbst 2020 haben wir in unserer Basler Forschungsgruppe die Bewegung in Deutschland und in der Schweiz untersucht. Im Zuge einer Online-Umfrage haben mehr als 1150 Personen einen umfangreichen Fragebogen ausgefüllt.25 Trotz der großen Anzahl von Teilnehmer:innen müssen wir jedoch davon ausgehen, dass wir mit unserer Studie nicht das gesamte Spektrum der Querdenker:innen erfassen konnten. Dezidiert rechte Verschwörungstheoretiker:innen haben wahrscheinlich nicht teilgenommen, weil sie eine derartige Studie von vornherein als korrumpiert ansehen. Ferner können wir nicht ausschließen, dass der »progressivere« Teil sich überproportional stark beteiligt hat, um die Bewegung in ein besseres Licht zu rücken. Die empirischen Ergebnisse, die wir im Folgenden analysieren, lassen sich deshalb nicht ohne Weiteres auf die Querdenken-Bewegung insgesamt übertragen, hier bedarf es vielmehr noch weiterer vertiefender Forschung.

Wir verfolgten einen breiten empirischen Ansatz: Neben der Online-Umfrage wurden ethnografische Beobachtungen, digitale Kommunikationen und mehr als vierzig qualitative Interviews durchgeführt und ausgewertet.26 Mithilfe dieses Methoden-Mix können wir die Einstellungen und Kritikformen der Querdenker:innen und Coronarebellen auf vielfältige Weise rekonstruieren und zusammenführen.27

Die Teilnehmer:innen unseres Surveys kamen aus fast allen sozialen Schichten, gehören aber mehrheitlich der Mittelschicht an. 31 Prozent verfügen über Abitur, 34 Prozent haben ein Studium abgeschlossen – deutlich mehr als in der deutschen Gesamtbevölkerung (dort haben 18,5 Prozent einen Hochschulabschluss, in der Schweiz 29,6). Fast jeder Vierte ist selbstständig, auch hier ist der Anteil deutlich höher als in der deutschen (9,8 Prozent) bzw. in der Schweizer Bevölkerung (12,8 Prozent). In der Schweiz hatten bei



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